Diese Versprechen wurden gebrochen, und die Wählerinnen und Wähler in beiden Ländern fühlen sich jetzt zu Recht getäuscht. Doch so verständlich Ihre Wut ist, so bedauerlich ist es auch, dass sie diese nun gegeneinander richten. Die deutsche Boulevardpresse bezichtigt die Griechinnen und Griechen der Faulheit – ungeachtet der Tatsache, dass diese zuverlässigen Daten der OECD zufolge mehr Stunden in der Woche arbeiten als alle anderen Europäerinnen und Europäer. Und unvernünftige Griecheninnen und Griechen verbrennen auf Demonstrationen deutsche Fahnen, obwohl Griechenland ohne die Kredite aus Deutschland noch sehr viel schlechter dran wäre.
Wie es zu dem falschen Versprechen einer vergleichsweise schnellen Lösung der Krise kam, darüber kann ich nur spekulieren. Vielleicht hatte die Troika aus EZB, EU und IWF tatsächlich nicht erkannt, vor welch gewaltigen Problemen Griechenland, die europäische Peripherie und das europäische Bankensystem stehen. Vielleicht glaubten die Verantwortlichen auch, den Menschen die Wahrheit nicht zumuten zu können. Sicher ist nur, dass wir für diesen gewaltigen Vertrauensbruch jetzt den Preis bezahlen.
"Wir können nicht mehr"
Den besten Beweis dafür, dass mein Land sich allmählich aus der Eurozone verabschiedet, lieferte der eklatante Unterschied zwischen der vorherrschenden Stimmung in Brüssel und Athen nach der Wahl vom 6. Mai. Während Europa verzweifelt überlegte, wie man auf das zwiespältige Ergebnis reagieren sollte, befanden sich die Athenerinnen und Athener in einem Zustand der freudigen Verwirrung, so wie Menschen sie am Morgen nach einer Revolution erleben. „Endlich haben wir den Europäern eine klare Botschaft gesandt: Wir können nicht mehr“, sagte einer meiner Freunde, und drückte damit aus, was hunderttausende Griechinnen und Griechen empfanden.
Die Äußerungen gegenüber EU-Korrespondentinnen und -Korrespondenten wie mir in den folgenden Tagen ließen darauf schließen, dass die europäischen Staaten und Banken, die Kommission und die EZB mit ersten „technischen“ Vorbereitungen für einen Fall begonnen haben, der noch vor Kurzem als undenkbar galt: den Rausschmiss Griechenlands aus der Eurozone. Doch ungeachtet der alarmierenden Berichte, die ich und meine griechischen Kolleginnen und Kollegen hier aus Brüssel nach Griechenland geschickt haben, hat die „Koalition der radikalen Linken“ (SYRIZA), die wichtigste griechische Partei, die den Rettungsplan ablehnt, seit der letzten Wahl laut Meinungsumfragen nochmals zugelegt und könnte am 17. Juni sogar einen rauschenden Sieg feiern.
Praktisch gesehen lebt Griechenland im Vergleich zum Rest der Eurozone in einer anderen Welt. Die Griechinnen und Griechen machen das Anpassungsprogramm dafür verantwortlich, dass die griechische Wirtschaft derzeit im fünften Jahr in Folge schrumpft, während die Arbeitslosigkeit einen historischen Höchststand erreicht hat. Mehr als die Hälfte der Jugendlichen in Griechenland ist arbeitslos und hat auch keinerlei Aussicht, Arbeit zu finden. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wird Prognosen zufolge im Vergleich zur Zeit vor der Krise um mindestens 20 Prozent sinken.
Außerdem fühlen sich die Griechinnen und Griechen von den beleidigenden Äußerungen aus Berlin und all den erniedrigenden Kommentaren in der internationalen Presse gedemütigt. „Zum Teufel“, denken sich viele meiner Landesleute. „Viel schlimmer kann es ja nicht werden, wenn wir die Drachme wieder einführen.“ Auf der anderen Seite reicht es auch vielen Europäerinnen und Europäern allmählich mit den Griechen, und auch sie denken: „Zum Teufel! Viel schlimmer kann es ja nicht werden, wenn wir den Geldhahn zudrehen.“ Beide Seiten haben die ganze Angelegenheit gleichermaßen satt, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Und beide Seiten liegen gleichermaßen falsch.
Deutsche brauchen Geduld, Griechen sollten Risiken der Drachme sehen
Deshalb ist es so unglaublich wichtig, dass die Politikerinnen und Politiker uns die Wahrheit sagen, so bitter sie auch sein mag. Es könnte die einzige Chance sein, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Regierenden wiederherzustellen und das europäische Projekt zu retten, ehe es zu spät ist. Meiner bescheidenen Meinung nach sollte Berlin die Botschaft aussenden, dass es Jahre dauert, bis die Reformen Früchte tragen, und die Deutschen zur Geduld mahnen. Vergessen wir nicht, dass im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts auch Deutschland die Defizitgrenze von drei Prozent sechs Mal überschritten hat und fast zehn Jahre lang als „kranker Mann Europas“ verspottet wurde.
Außerdem hat Deutschland von den Griechenland zur Verfügung gestellten Krediten bislang sogar profitiert, und alle Prognosen haben gezeigt, dass es den Steuerzahler sehr viel günstiger kommt, wenn man diesem kleinen Land hilft, anstatt es Pleite gehen zu lassen. Im Übrigen: Sollte die Lage nach einem „Grexit“ völlig außer Kontrolle geraten, wird die Nachwelt jenen, die das Projekt der europäischen Einigung leichtfertig aufs Spiel setzten, nicht so schnell verzeihen. Vor allem jedoch hat Deutschland am eigenen Leib erfahren, welch schlimme Folgen die Demütigung einer Nation haben kann, und es sollte sich daran erinnern, dass es einst selbst von einer Umschuldung profitierte – trotz der Verbrechen, die von Deutschland ausgegangen waren.
Gleichzeitig gilt es Athen klarzumachen, dass die Drachme keines der Probleme lösen wird, die Griechenland zugrunde gerichtet haben, als da wären die Misswirtschaft bei den öffentlichen Finanzen, die allzu große Abhängigkeit von der staatlichen und privaten Nachfrage, der Mangel an exportorientierten Unternehmen, die geringe Wettbewerbsfähigkeit, die grassierende Steuerhinterziehung und die Schwächen in der öffentlichen Verwaltung. Davon abgesehen grenzte es an Selbstmord, eine neue Währung einzuführen, wenn man als Staat bereits zahlungsunfähig ist.
Einzige Perspektive: Verbleib in der Eurozone
Selbstverständlich sind Veränderungen der Parameter der zwischen Griechenland und der EU getroffenen Vereinbarung möglich und angezeigt. Es ist schwer verständlich, weshalb die deutsche Regierung so darauf fixiert ist, die griechische Medizin auch allen andern EU-Ländern zu verabreichen, selbst jenen, die Primärüberschüsse vorweisen können. Wenn im übrigen Europa die Konsolidierungsschraube ein wenig gelockert wird und der Kontinent dadurch einer „doppelten“ Rezession entgeht, dann wird davon auch die griechische Wirtschaft profitieren, in Form von mehr Touristen und höheren Exporten.
Wichtiger noch: Auszahlungen aus dem Rettungspaket sollten nicht nur an die Erfüllung fiskalischer Ziele geknüpft werden, sondern an die Bedingung, dass sinnvolle Reformen umgesetzt werden, die den Menschen in Griechenland eine höhere Lebensqualität sichern (Stichwort Bürokratieabbau). Und eine Fristverlängerung für die Reduzierung des Defizits unterhalb die 3-Prozent-Marke würde der griechischen Wirtschaft eine wertvolle Atempause verschaffen, ohne der Eurozone hohe Kosten zu verursachen.
Grundsätzlich ist jedoch klar, dass das gigantische Hilfsprogramm der EU und des IWF lediglich den unkontrollierten Absturz Griechenlands verhindern konnte. Eine unsanfte Landung wird sich nicht vermeiden lassen. Griechenland erlebt derzeit eine Art „Realitätsschock“, weil der Lebensstandard auf das Niveau einer Welt ohne Kredite sinkt und sich an die tatsächliche Wertschöpfung im Land anpasst. Die einzige Chance, die Griechenland hat, ist in der Eurorzone zu bleiben und den Reformprozess weiter voranzutreiben – so schmerzlich diese Erkenntnis auch sein mag.
Letzte Chance für ein vereinigtes Europa?
Um die Eurozone zusammenzuhalten, sind Griechenland, Deutschland und das übrige Europa mutige Kompromisse eingegangen und haben große Opfer auf sich genommen. Lassen Sie uns jetzt nicht aufgeben. Lassen wir nicht zu, dass die Populisten sich durchsetzen. Lassen wir es nicht soweit kommen, dass die Gegnerinnen und Gegner eines vereinigten Europas Blut lecken.
Erinnern wir uns daran, dass hunderttausende griechische Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter am deutschen Wirtschaftswunder mitgearbeitet haben, und dass Millionen Deutsche heute die einzige „Schwerindustrie“ Griechenlands am Laufen halten, den Tourismus. Rufen wir uns ins Gedächtnis, dass nur wenige Jahre vergangen sind, seit ein deutscher Trainer in meinem Land verehrt wurde wie ein Gott, nachdem er das größte Wunder in der Geschichte des europäischen Fußballs vollbracht hatte. Machen wir uns bewusst – ehe es zu spät ist –, dass wir einen weiten Weg vor uns haben, dass es aber keine gangbare Abkürzung ist, von der Klippe zu springen. Uns bleiben nur wenige Wochen.
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Nikos Chrysoloras ist EU-Korrespondent der führenden griechischen Tageszeitung Kathimerini und im Jahr 2012 „EU Journalism Fellow” der Robert-Bosch-Stiftung. Er hat an der London School of Economics in Politikwissenschaft promoviert.
Der englischsprachige Text wurde von Richard Barth ins Deutsche übersetzt.
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